Studentenproteste in Strassbourg

Der Europa-Protest in Straßburg ohne Pass und Visum

Als am 6. August 1950 an der Grenze St. Germanshof-Wissembourg die Zollschranken brannten und 300 europäische Studenten für ein föderales Europa demonstrierten, hatte dies nicht nur ein weltweites journalistisches Echo. Noch am Feuer hieß es in Richtung Europarat: Wir kommen wieder - im gleichen Jahr – direkt nach  Straßburg – als Europäer – ohne Pass und Visum!
Dieser Protest sollte eine noch erheblich größere Brisanz haben als die Schlagbaumaktion an der Grenze. Denn nun handelte es sich nicht mehr nur um die symbolische Zerstörung von Grenzzeichen. Es ging um Überschreiten der Grenze als absichtliche Grenzverletzung ohne Pass und Visum und um direkte Konfrontation von tausenden Studenten mit den politischen Akteuren an Ort und Stelle, um diese ein weiteres Mal auf die Bedeutung eines föderalen Europa ohne Binnengrenzen hinzuweisen.


Die Aktionsplanung


Zur Vorbereitung der Großaktion werden die Möglichkeiten der Union Féderaliste Interuniversitaire (UFI) genutzt, dessen Präsident Professor Mouskhély sich wieder persönlich engagiert. Idealer Termin ist der 24. November 1950, weil an diesem Tag in Straßburg der erste Kongress der Jeunesse Européenne Fédéraliste (JEF) stattfinden soll, zu dem zahlreiche Teilnehmer erwartet werden.
Dabei ist klar, dass die konkrete Vorbereitung des Transports so vieler Demonstrationsteilnehmer aus ganz Westdeutschland nicht leicht sein würde.  Busunternehmer müssen gefunden werden, die den Transport übernehmen, und Sponsoren, denen die Einbindung Deutschlands in Europa wichtig ist. Und es geht darum, ein Vielfaches an Teilnehmern zu gewinnen, die das Risiko des Überschreitens der Grenze nach Frankreich ohne Pass und Visum auf sich nehmen.
Die Fahrt zur Grenze
Für die Anreise von deutscher Seite hat der dynamische Pariser Sprachlehrer Marcel Mille – wie am 6. August bei St. Germanshof - die Organisation übernommen. Der Termin 24. November ist inzwischen kein Geheimnis mehr. Denn ‚Associated Press‘ hat eine Meldung verbreitet, dass etwa 600 deutsche Studenten die Grenze nach Frankreich stürmen und ohne Pass nach Straßburg kommen wollten. Auch die Straßburger Gendarmerie ist vorbereitet, sollte es gefährlich werden. Aber Ort und Zeit der Grenzüberschreitung bleiben weiter offen.
Wie geplant fahren im November mehr als zwanzig große Omnibusse durch die Nacht. Das letzte chiffrierte Telegramm, das den Leitern aus Hamburg, Hannover, Bremen, Göttingen, München, Freiburg, Münster, Aachen, Köln, Wuppertal, Würzburg, Nürnberg, Erlangen usw. zugegangen war, lautete: „Lieferung bis 24. 11. 6 Uhr morgens.“ Um sechs Uhr in der Frühe sollen demnach alle in Heidelberg eintreffen.
Dazu notiert die Würzburger Gruppe: Bei klarem Himmel und Vollmond durchfuhren wir die dunklen Täler des Odenwaldes. Da war der Neckar und bald blinkten die Lichter Heidelbergs. Keiner hatte geschlafen. Bald trafen auch die anderen Busse ein.

 
Die Würzburger Gruppe vor der Abreise


Auf dem Heidelberger Messplatz reiht sich ab 6 Uhr Wagen neben Wagen. Hier und da ein freudiges Hallo, ein Wiedersehen alter Bekannter, die das gleiche Ziel verfolgen.
Die Leiter der Busse erhalten Fahranweisungen und Karten. Marcel Mille erläutert das weitere Vorgehen. Jeder erhält eine selbst auszustellende ‚Europa-Kennkarte’, da die Grenze nach Frankreich ja demonstrativ ohne Pass und Visum überschritten werden soll.
 
In Abständen von zwanzig Minuten geht es dann auf verschiedenen Wegen in Richtung Grenze.
Die Gendarmerie wartet schon
Der angekündigte ‚Besuch’ von deutscher Seite in großer Zahl hat die französische Gendarmerie nicht untätig gelassen. Man kennt die genauen Umstände nicht, hat sich daher  auf mehrere Alternativen eingestellt und ist auf alles vorbereitet. Aber es kommt anders.
Gegen Mittag tauchen im Pfälzerwald die Omnibuskolonnen auf. Trotz einiger Pannen sind alle Busse zur Stelle. Ihnen folgen kleinere Wagen mit Journalisten. Die Wege werden schwieriger. Oft geht es nur schrittweise voran.
Schließlich wird genauer informiert: An der Grenze – wieder bei St. Germanshof - werden die Busse auf deutscher Seite stehen bleiben, um die Busunternehmen wegen illegalen Grenzübertritts nicht zu gefährden. Alle sollen aussteigen und ein kurzes Stück durch den Wald über die Grenze zu einer Stelle gehen, wo französische Fahrzeuge bereit stünden, kein leichtes Problem für die fast 800 Teilnehmer.
In Straßburg hat man sich inzwischen im Europarat mit der Situation befasst. Es wird der Vorschlag gemacht, die Deutschen in ihren Fahrzeugen bis nach Straßburg kommen zu lassen. Die Franzosen sperren sich zunächst, willigen aber unter der Bedingung ein, dass die Kolonne nicht durch Wissembourg fährt, sondern an anderer Stelle die Grenze passiert. Also müssen alle Busse umkehren und zur Grenzstation Hirschthal fahren, um von dort über Lembach nach Straßburg zu kommen.

In Hirschthal über die Grenze

Wieder geht es auf engen Straßen weiter in Richtung Westen. In Hirschthal sind die Zöllner informiert, aber doch erstaunt, wieviele Busse mit Fahnen und Transparenten erscheinen. Inzwischen ist auch Professor Mouskhély aus Straßburg eingetroffen. Die Begeisterung kennt keine Grenzen. Kein Pass, kein Visum und und nun in Frankreich – eben in Europa!
 
Der Grenzbaum ist hoch


Eigentlich geschieht auf dem weiteren Weg nichts Besonderes. Die Menschen staunen über die vielen Busse mit ihren Europafahnen. Mütter winken mit ihren Kindern auf dem Arm. Alte Menschen schauen ungläubig aus den Fenstern. Arbeiter schwenken ihre Mützen. Auch die Augen der Studenten werden feucht. Die Grenzen sind wirklich nur eine Fiktion. Die gleiche Natur, die gleichen Bauernhöfe, die gleichen Bäume und das gleiche Ackerland - eben Europa. An den Straßenkreuzungen steht wachsam die Gendarmerie. Aber sie wird kaum mehr wahrgenommen.

Auf zum Europahaus


Bei der Ankunft am späten Nachmittag auf dem Straßburger Messeplatz wieder großes Hallo.  Einige Engländer, Spanier und Oesterreicher sind schon mit Fahnen und Transparenten versammelt. In der Halle herrscht lautes Getriebe: Schweizer, Franzosen, Saarländer, Luxemburger, Belgier, Holländer, Dänen. Von hier aus soll es gemeinsam zum Europahaus gehen. Schweigend zieht dann eine Kilometer lange Menschenschlange durch die Straßen, Studenten mit Schärpen, Italiener mit ihren Schnabelhüten, alle äußerst diszipliniert.

Die Demonstration

Die Demonstration beginnt.

Vor dem schlichten Bau erscheint der Präsident der Europäischen Versammlung Paul-Henri Spaak, bedankt sich für die überreichte Resolution und versucht zu erklären, warum es mit Europa nur langsam voran gehe. Kein Wort über zukünftig fallende Grenzen, keine mutigenVisionen über ein frei gewähltes Europaparlament.  Und schließlich erklärt er: „Wir haben ernst gearbeitet. Protestiert nicht in Straßburg sondern vor den Parlamenten eurer Länder, damit diese dem Europarat größere Vollmachten einräumen.“
 
Paul H. Spaak: Protestiert bei euren Regierungen

Schweigend steht die Jugend wie eine Mauer. Ohne Beifall muss Spaak seine Rede beenden.  Die Antwort des studentischen Sprechers aus Italien ist deutlich: Die Jugend will ein offenes und föderales Europa. Und die Tausende schwören mit ihren Fackeln in der Hand: Wir sind des Redens müde und dringen auf rasches Handeln. Wir fordern Wahlen für ein europäisches Parlament und werden nicht aufhören, uns für einen raschen Zusammenschluss der europäischen Länder einzusetzen. Anschließend bewegt sich der Fackelzug durch die Stadt.

Nachdenklich zurück


Der Rückweg der jungen Europäer ist ein Schweigemarsch und ein stiller Protest durch das nächtliche Straßburg. An der Messehalle trifft man sich schließlich zu letzten Kontakten und zum freudigen Abschiednehmen. Der offizielle Protest konnte nur ein stiller sein. Aber er sollte zeigen, dass die Jugend wachsam ist und dass von ihr die Verhandlungen über Europa mit großer Aufmerksamkeit verfolgt werden.
Sechs Monate später trat Spaak, der 1948 auf einem Kongress in Den Haag zusammen mit dem britischen Premierminister Churchill die Gründung der  ‚Europäischen Versammlung’ als ‚Europarat’ gefordert und diese auch erreicht hatte, als Präsident zurück. Dabei soll er gesagt haben: „Was ich hier mache, hat keinerlei Sinn und trägt nicht zum Fortschritt Europas bei.“
Kurz nach Mitternacht verlassen die ersten Busse Straßburg. Die Meinung: Es war ein einmaliges Ereignis, die Grenze ohne Pass und Visum zu ignorieren und vor dem Europahaus zu demonstrieren. Wie weit aber die Realität von dem erhofften Zustand noch entfernt ist, erlebt am gleichen Abend aus dem Kölner Team Helga Bauer. Sie ist so sehr im Gespräch mit holländischen Studenten vertieft, dass sie sich bei der Abfahrt irrtümlich noch in deren Bus befindet. So landet sie schließlich statt in Köln ohne Pass in Amsterdam und kann erst Tage später nach einigen diplomatischen Komplikationen ihre Heimatstadt wiedersehen.

Keine Europafahne in Bonn!


Und eine Enttäuschung gibt es auch für die begeisterten Kölner Studenten auf ihrem Rückweg nach Hause. Unterwegs war – entsprechend der Aufforderung von Spaak - der Gedanke gereift, am Bonner Bundestag kurz symbolisch die Europafahne zu hissen. Auf einer Rast bei Frankfurt wird darüber telefonisch die Bonner Presse benachrichtigt und danach Kurs auf das Bundeshaus genommen.
In Bonn zeigt sich jedoch statt der Presse unerwartet die Polizei. Trotzdem gelingt es, das Bundeshaus zu erreichen, dort anzuhalten und am Mast die Europafahne zu befestigen. Dann aber greifen die Polizisten zu und machen unmissverständlich klar, wer in Europa das Sagen hat und dass die Immunität des 'Hohen Hauses' auch für junge Europäer nach wie vor keine Ausnahme zulässt.

Autor: Dr. Matthias W.M. Heister
Quelle: Der Studentensturm auf die Grenzen 1950. 2015