Neue Hauptstadt für Europa

Anfang der 50er Jahre fand in Europa eine rege Debatte über den Sitz der künftigen europäischen Institutionen statt. 

Es bewarben sich zahlreiche bestehende Städte, u.a. Saarbrücken, Den Haag und Brüssel. Einen anderen Ansatz verfolgten u.a. ein französischer Maler und ein deutscher Journalist: Eine neue Hauptstadt, für die der Name „Weisse Burg – Bourg Blanc“ vorgeschlagen wurde. Ihre Idee entstand unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg, nachdem das Schicksal unter dramatischern Umständen ihre Wege hatte kreuzen lassen. Sie beschlossen, dem zu vereinigenden Europa bei der Stadt Weißenburg eine Hauptstadt zu geben und einen Ort der Begegnung für junge Europäer zu schaffen.

  • Die Vorgeschichte

    Die Idee der "Bourg Blanc" stammt vom französischen Maler Georges-Henri Pescadère (1915-2003) und dem deutschen Journalisten Karl Oswald Schreiner (1894-1972). Beide waren während des Zweiten Weltkrieges - jeder auf seiner Seite - in der Widerstandsbewegung aktiv und wurden im Juli 1944 von der Gestapo im besetzten Frankreich verhaftet. Der Pariser Künstler Pescadère war als Persönlichkeit in der französischen Résistance bekannt und zum Zeitpunkt seiner Verhaftung Leutnant der Einsatzgruppe "Corvette". Karl Schreiner, Doktor der Wirtschaftswissenschaften, arbeitete bereits als Diplomat im deutsches Konsulat in Äthiopien. Nach der Machtergreifung durch die Nazis wandte er sich von der Politik ab und ging in die Wirtschaft. Im Krieg engagierte er sich gleichzeitig entschlossen im Widerstand, indem er zum Beispiel zahlreichen Deutschen zur Flucht ins Ausland verhalf. Da er sich im Bereich der Krankenpflege auskannte, zog man ihn während seiner Gefangenschaft zu Pflegediensten an Mitgefangenen heran. So lernte er auch den erschöpften und todkranken Pescadère kennen, den er rettete.

    Nach Überwindung einer anfänglichen Skepsis, entwickelte sich zwischen den Männern in den Zeiten extremer Not eine immer tiefergreifende Freundschaft. Gemeinsam überlebten sie den Weg durch die Konzentrationslager Dora-Nordhausen, Bergen-Belsen und Buchenwald. Als im April 1945 das Gefangenenlager in Bergen-Belsen befreit wurde, rettete wiederum Pescadère seinem Freund das Leben, als er ihn in seinem Wandschrank versteckte. Obwohl Schreiner ein Deportierter war - in diesem Moment galt er als Deutscher als Feind. Direkt nach dem Krieg wollte Schreiner seine Idee zur Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland in die Tat umsetzen und entwickelte gemeinsam mit Pescadère seine Pläne weiter.

  • Die Idee vom UNO-Staat

    Für die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich erschien Karl Schreiner seine Geburtsstadt Weißenburg und die Südpfalz "im Herzen Europas" perfekt geeignet. Dort sollte nach seiner Vision ein neutraler UNO-Staat entstehen, der es ermöglicht, den jahrhundertealten Auseinandersetzungen zwischen den Nachbarstaaten endlich ein Ende zu bereiten. Als Ausgangspunkt war der Geilweiler Hof bei Siebeldingen vorgesehen. den Oskar Schreiner zeitweise angemietet hatte und an welchem im Sommer 1946 mit den Bauarbeiten für ein UNO-Gebäude begonnen werden sollte. Die UNO war gegründet worden, hatte aber in der ersten Phase noch keinen festen Sitz. Es gab nur einen provisorischen Sitz in London, der spätere Sitz New York war noch nicht beschlossen worden (Die Skizze für das Gebäude, die auch im späteren Konzept für „Bourg Blanc“ auftaucht, ähnelt verblüffend dem später tatsächlich in New York errichteten UNO-Hauptquartier). Zusammen entwickelten Karl Oswald Schreiner und Georges Henri Pescadère konkrete Ideen zur Umsetzung. Der Ort, an dem sie ihre Pläne diskutierten ist das kleine Haus "Maison Dippacher" in der Weißenburger Altstadt, welches heute noch in Sichtweite des Rathauses zu finden ist (10, rue de la République).

    Schon zu Beginn des Jahres 1946 war die Planung für den „UNO-Staat-Weißenburg“ abgeschlossen. Die beiden Männer trafen mit ihrer Idee auf offene Ohren - sowohl auf der Seite der französischen Besatzungsmächte, als auch bei den derzeitigen Bürgermeistern der Stadt Weißenburg und Landau. Ziemlich bald wurde den Beteiligten jedoch klar, dass die französische Besatzungsmacht das Vorhaben für ihr eigenes Ziel nutzen könnte, nämlich für die Abgrenzung der Pfalz von Deutschland. Anders als ihr Bürgermeister erhoffte sich der Stadtrat der Stadt Weißenburg ein sehr großes Gebiet, bestehend aus ihrem französischen Territorium und einem großen Stück der Pfalz bis zur Queich (einschließlich Landau), wie es auch am 21.9.1946 im Rat vorgetragen wurde. Aufgrund dieses unüberwindbaren Interessenkonfliktes wurde Karl Schreiner deutscherseits die Unterstützung für seine Pläne entzogen. Trotz der Schwierigkeiten versuchte Schreiner einige Jahre später erneut, seine Idee in die Tat umzusetzen…

  • Bourg Blanc – neue Hauptstadt Europas

    Obwohl sie mit ihrer Idee im Jahr 1946 erfolglos blieben, gaben die Männer nicht auf. Regelmäßig trafen sie sich nach ihren beruflichen Tätigkeiten im Geilweiler Hof oder in Weißenburg. Nach langen Überlegungen riefen sie die Bewegung "Le Bourg Blanc - the white castle - Die Weisse Burg" ins Leben. Die Idee war die Schaffung eines neutralen, wirtschaftlich unabhängigen Gebietes, in welchem alle Europäer anerkannt werden, frei von der jeweiligen Staatangehörigkeit, nationalistischem Gedankengut und staatlichen Interessen. Diese an historischen Ursprüngen anknüpfende "immune Zone" sollte zwischen Weißenburg und Bad Bergzabern verwirklicht werden.

    Dazu wurden nicht nur inhaltliche Konzepte geschmiedet, sondern auch Pläne für die Gestaltung dieser neuen Hauptstadt entworfen. Besonders wichtig war ihnen, einen gemeinsamen Ort für die jungen Europäer zu erschaffen. So war es auch nicht verwunderlich, dass Jugendliche aus verschiedenen Nationen die ersten waren, die den Plan aufgriffen. Sie wollten aus der „Weissen Burg“ eine Heimat der europäischen Jugend machen, einen Bauplatz Europas, der seine Anziehungskraft über den Kontinent ausstrahlt. Auch für ein Jugendhotel, das „Haus der Jugend Europas“, wurden konkrete Pläne entworfen. Es sollte am nördlichen Stadtrand von Weißenburg entstehen, in etwa dort, wo sich heute das Krankenhaus befindet. Auch hier ähneln sich die Baupläne der beiden Gebäude in verblüffender Weise. Das Grundstück wollte der Bürgermeister kostenlos zur Verfügung stellen. Des Weiteren waren ein Organisationszentrum geplant, in dem Kongresse und Jugendbegegnungen stattfinden sollten, aber auch ein Verlagshaus und ein Kollegium, das Wissenschaftler und Experten zusammenführen sollte, Sommerkurse zu europäischen Fragen sollten dort stattfinden. Längerfristig sollte ein Filmstudio das Angebot ergänzen, ein Stadium für die Olympiaden der europäischen Jugend und ein internationales Pestalozzi-Dorf für heimatlose Waisen.

  • Das Wettrennen um die Hauptstadt Europas

    In Mitten der Vorbereitungsphase für die Pläne der „Weissen Burg“ fiel die Gründung des Europarates, der auf Vorschlag des britischen Außenministers Ernest Bevin in Straßburg seinen Sitz bekam. War dies bereits eine Vorentscheidung? Nur zum Teil, nur 6 Gründungsmitglieder waren dabei. Das eigentliche Wettrennen um den Sitz der europäischen Institutionen - und damit der „Hauptstadt Europas“ - fand in den Jahren 1952 und 1958 statt. Zunächst bewarben sich Lüttich, Saarbrücken, Den Haag, Luxemburg, Straßburg, welche politische Unterstützung genossen, aber auch Trier und Aachen, Karlsruhe , Bonn, Dijon, Trieste, Amsterdam, kleinere Orte am Lago Maggiore, Lyon usw. In diese Reihe gehört auch die Initiative Bourg Blanc. In 1958 bewarben sich manche erneut. Neu hinzu kamen Paris, Brüssel, Stresa, Monza, Milano, Nizza, Torino, Département de l’oise… Zu diesem Zeitpunkt war die Initiative „Bourg Blanc“ bereits Geschichte. Was war geschehen?

    Im Januar 1953 wurde ein internationales Treffen in Speyer und Weißenburg organisiert, bei welchem Menschen unterschiedlicher Kulturen und politischer Interessen Arbeitsgruppen für das Projekt bildeten. Im Mai konnten sich Schreiner und Pescadère die Gründung der Stiftung Bourg Blanc mit Sitz in Weißenburg notariell bestätigen lassen. Mit Geldern aus dem Marshallplan, persönlichen Finanzbeiträgen der Initiatoren und mit der Hilfe zahlreicher Jugendlicher, konnten die Pläne der „Bourg Blanc“ im Juni 1952 offiziell bekannt gegeben werden. Noch im selben Jahr starteten über 300 Europäer eine Kampagne, um sowohl die Presse als auch die Politik auf das Projekt aufmerksam zu machen. Dabei wurde ein Aktionsprogramm beschlossen, das u.a. folgende Maßnahmen umfasste: Die Geschichte der Immunitas aufarbeiten, noch existierende Überreste herrichten und eine touristische Beschilderung vornehmen. Die Schaffung eines Museums in Weißenburg, in dem die Geschichte der Stiftung Bourg Blanc und die Immunität anhand von Fotos, Modellen usw. dargestellt wird. Das Projekt wurde auch im Jahr 1953 beim Treffen des Bundes der Europäischen Jugend in Fulda vor 10.000 Teilnehmern - in Anwesenheit von Kanzler Adenauer und Präsident Spaak - als Beispiel für konstruktive Bemühungen der Jugend für Europa vorgestellt.

  • Was daraus wurde...

    Als man gerade dabei war, die Pläne in die Tat umzusetzen, geriet das Vorhaben ins Stocken. Obwohl einige Befürworter die Initiative bereits positiv beurteilt hatten, wollte sich von offizieller bzw. politischer Seite keiner mehr dafür einsetzen. Seit den Ereignissen vom August 1950 am St. Germanshof standen die Treffen der Studenten und anderer Aktivisten unter Beobachtung des französischen Inlandsgemeindienstes. Insbesondere von französisch-kommunistischer Seite wurde heftige Kritik laut. Gegner warfen dem Projekt vor, es sei ein Versuch, französisches Territorium zu vereinnahmen. Uneingeschränkt positiv wurde das Projekt fast nur durch Jugendliche aus ganz Europa und deren Organisationen gesehen. Im Februar 1954 fand die letzte große Versammlung in Weißenburg statt, bei welcher jedoch an der Grenze massive Schwierigkeiten bei der Ausweiskontrolle auftraten. Die Begeisterung war nach wie vor da, doch klaffte eine große Lücke zwischen den visionären Plänen und den finanziellen Ressourcen, insbesondere nachdem es vom Marshallplan keine Gelder mehr gab. Der amerikanische Verbindungsmann zu den Entscheidern in Washington, der das Vorhaben stets unterstützt hatte - Toby Rodes - hatte die Funktion gewechselt. Er hatte befürwortet, das Vorhaben ganz durch die USA finanzieren zu lassen. Man hatte Interesse an der Schaffung einer „Europäischen Gruppierung“, auch um sie besser kontrollieren zu können. Die Furcht vor einem wachsenden Einfluss kommunistischer Arbeiterbewegungen in Europa war in Zeiten des Kalten Krieges dabei eine Triebkraft.

    Was ist also aus der Aktion geworden? Blickt man auf die Ideen, Pläne und Vorhaben, so ist sie gescheitert. Pescadère meinte später selbst, man hätte bescheidener vorgehen müssen, mehr vom Bestand ausgehen... Der ideologische Kopf und begeisterte Europäer, Karl Oswald Schreiner, war tief enttäuscht. Er zog sich Anfang der 60er Jahre auf die Balearen zurück, wo er 1972 verstarb. Gleichwohl wurde die europäische Heimstatt für die Jugend verwirklicht, zwar nicht in Weißenburg, nicht als Zentrum der europäischen Hauptstadt „Weiße Burg“, sondern im gleichen Jahr 1972 in der „heimlichen“ Hauptstadt Europas, in Straßburg.

  • Bourg Blanc - „Centre Européen de la jeunesse“
    Original Aufzeichnungen 1952
    „Centre Européen de la jeunesse“
  • Bourg Blanc - Original Aufzeichnungen
    Original Aufzeichnungen 1952
    Die Weisse Burg
  • Bourg Blanc - Original Aufzeichnungen
    Original Aufzeichnungen 1952
    Karte "Bourg Blanc" in Europa
    Maison Dippacher

    Die komplette Geschichte als PDF

      Warum gerade Weißenburg?

      "Weil es im Herzen Europas liegt, an der Schicksalsgrenze des Kontinents, als ein Schauplatz alter Feindseligkeiten und neuer Brüderlichkeit. Weißenburg war vor eintausend Jahren eine Immunität zwischen den rivalisierenden Mächten. Es war im Mittelalter eine Pflegestätte des abendländischen Geistes. Sein Name und sein Wappen symbolisieren seine Mission, Mittler und Bindeglied zu sein. Westwall und Maginotlinie, die letzten Baudenkmäler des europäischen Bruderzwists, haben Weißenburg ausgespart, so als sollte die friedliche Bestimmung dieses Gebietes für eine bessere Zukunft bekräftigt werden." 

      Quelle: Zitat aus der Faltbroschüre "Bourg blanc - Weisse Burg" von Karl Oswald Schreiner u. Georges-Henri Pescadère, Paris & Godesberg 1952

      • Dr. Karl Oswald Schreiner

        Dr. Karl Oswald Schreiner

        geboren 22.8.1894 in Weißenburg
      • Georges Henri Pescadère

        Georges Henri Pescadère

        geboren 7.5.1915 in Paris
      • "Maison Dippacher" in Weißenburg

        "Maison Dippacher" in Weißenburg

        Planungsstätte von Schreiner und Pescadère
      • Geilweiler Hof bei Siebeldingen

        Geilweiler Hof bei Siebeldingen

        Keimzelle des neutralen UNO-Staates
      • Weißenburg

        Weißenburg

        neue Hauptstadt "im Herzen Europas"